Armut und soziale Ungleichheit – eine realitätsnahe Debatte?


Die Ausgangslage für diese Diskussion ist wie folgt beschrieben:

Im Jahr 2015 waren etwa 15,2% der rheinland-pfälzischen Bevölkerung – also gut jeder siebte Einwohner – von Armut bedroht. Eine besondere Bedrohung oder überdurchschnittliche Betroffenheit gab es dabei bei Erwerbslosen mit 49,4%, Alleinerziehenden mit Kindern unter 18 Jahren 44,2%, Personen ohne deutsche Staatsangehörigkeit 34,2%, Personen mit niedrigem Qualifikationsniveau 30,5%, Personen mit Migrationshintergrund 26,9%, Ein-Personen-Haushalten mit 26,7%, 18- bis unter 25jährigen 24,5%, unter 18jährigen 19,4% sowie älteren Menschen (65 Jahre und mehr) 16,9%.

In die gleiche Richtung tendiert auch der Armutsbericht des Bundes. Dem Zahlenwerk zugrunde lag bei beiden Darstellungen der so genannte „relative Armutsbegriff“. Dort, wie auch bei der Debatte auf Landesebene, werden Personen als arm definiert, die weniger als 60% des mittleren Einkommens aller Deutschen zur Verfügung haben.

Ich ziehe die unter Berücksichtigung dieser Definition festgestellten Zahlen nicht in Zweifel. Ich stelle mir jedoch die Frage, ob die Definitionsgrundlage des so genannten „relativen Armutsbegriffs“ der richtige Ausgangspunkt ist. Er sagt nichts aus über die tatsächliche Situation des Einzelnen in seinem unmittelbaren regionalen und gesellschaftlichen Umfeld und hat schon gar nicht die Konsequenz, dass dieser Personenkreis in gesellschaftlichem Sinne abgehängt ist. Denn ob Hunderttausende von Studenten oder 18-25Jährige sich als arm betrachten, wage ich zu bezweifeln. Sie sind als Studierende oft gesellschaftspolitisch besonders aktiv und sehen sich als zukünftige Leistungselite unseres Landes. Andere in dieser Altersgruppe befinden sich in einer Ausbildung, haben weniger Geld, aber eine echte Zukunftsperspektive. Und ob jemand mit einer bestimmten durchschnittlichen Summe an Einkommen sich als arm empfindet, hängt sicherlich auch damit zusammen, ob er in einer preiswerten Region wohnen oder in einem teuren Ballungsraum wie beispielsweise München leben muss.

Das Land will jetzt einen Beteiligungsprozess in einer Besuchs- und Veranstaltungsreihe initiieren. Es soll Praxisgespräche, Regionalforen, örtliche Workshops und natürlich einen Beirat auf Landesebene geben. Dies alles dient der Vorbereitung eines späteren „Aktionsplans“ auf Landesebene.

Spätestens jetzt spitze ich die Ohren, denn mir ist meiner langen politischen Tätigkeit noch kein Aktionsplan untergekommen, der nicht zu einer Erweiterung der sozialen Leistungen geführt hätte. Und gerade da stelle ich mir die Frage, ob dies der Sinn einer solchen Debatte sein kann.

Seit Jahren steigen die Sozialausgaben in Deutschland von Bund, Ländern und Gemeinden. 52% des Bundeshaushalts (über 170 Milliarden Euro) gibt der Bund allein für Soziales aus. Bei den Kommunen sind es noch einmal über 60 Milliarden Euro im Jahr. Die Sozialleistungen der Kommunen steigen trotz geringer Arbeitslosigkeit und hohem Wirtschaftswachstum ungebremst. Sie sind der größte Kostenblock in den kommunalen Haushalten.

2017 ist Wahljahr. Deswegen geht mein Appell gerade dahin, diese Debatte nicht schon damit zu beginnen, weitere zusätzliche neue Sozialleistungen zu versprechen. Im Gegenteil: Der Sozialstaat, den wir alle als etwas Positives auffassen, muss zukunftsfest und finanzierbar gemacht werden. Wir sind schon heute der „sozialste Staat“, den es jemals in der Geschichte dieses Landes gegeben hat. Deshalb müssen wir der Erwartungshaltung der Bürger im Sinne einer Vollkasko-Mentalität gegenüber dem Staat etwas entgegensetzen. Unsere Errungenschaften in diesem Bereich sind bereits gewaltig. Der Ganztagskindergarten mit möglichst kleinen Gruppen und hochqualifizierten Erzieherinnen und Erziehern und Betreuungsmöglichkeiten bis zum Wochenende ist bereits kostenlos. Wir haben eine kostenlose Schülerbeförderung, und in der Ganztagsschule werden als selbstverständlich Bio-Mahlzeiten und die Förderung jedes Einzelnen angemahnt. Und selbst die Klassenfahrt soll nach Vorstellungen mancher Eltern nicht nur von ihnen, sondern von der Schule, der Kommune und dem Förderverein finanziert werden.

Selbstverständlich ist die Frage nach einer Ausweitung der Elternrechte im Schulgesetz oder zum qualitativen Ausbau der Kinderbetreuung mit höchster Priorität versehen. Über Elternpflichten hingegen wird wenig gesprochen.

An diesem Beispiel wird deutlich, dass weitere soziale Leistungen eine Optimierung auf allerhöchstem Niveau bedeuten.

Dem steht entgegen, dass der Staat nur das verteilen kann, was er zuvor über Steuern, Gebühren und Beiträge, die selbstverständlich von den Bürgerinnen und Bürgern bezahlt worden sind, auch eingenommen hat. Eine Aufgabe des Beteiligungsprozesses sollte deshalb sein, den Bürgerinnen und Bürgern deutlich zu machen, dass diese sozialen Leistungen auf Dauer nur dann sachgerecht erhalten bleiben können, wenn es zu einer Reform der sozialen Sicherungssysteme kommt.

Wir haben mittlerweile ein selbst für Experten kaum noch durchschaubares System von Finanzierungen, Leistungen, Verrechnungen und Zuständigkeiten. Wichtig wäre es deshalb, dieses System einfacher, transparenter und bürokratischer, aber insbesondere effektiver und besser ausgerichtet auf die wirklich Bedürftigen zu gestalten. Deswegen könnte die Diskussion im Beteiligungsprozess dadurch unterstützt werden, dass das Land auf Bundesebene zu Beginn der neuen Legislaturperiode fordert, dass eine Kommission zur Reform der Sozialsysteme eingerichtet wird. Dass dies dringend notwendig ist, wird deutlich, wenn man einen Blick auf die immer schneller steigenden Sozialausgaben in den Kommunen wirft. Denn sämtliche Konsolidierungserfolge und steigenden Steuereinnahmen in unseren Städten und Gemeinden werden scheinbar unmittelbar durch die steigenden sozialen Leistungen wieder aufgefressen. Deshalb macht eine solche Diskussion nur dann Sinn, wenn man durch Investitionen in Bildung und Infrastruktur und mit Reformen der Sozialsysteme für Arbeitsplätze und Wohlstand sorgt und nicht das Ziel einer Erweiterung der sozialen Leistungen in allen Lebensbereichen verfolgt.


GStB-Kommentar aus Gemeinde und Stadt 5/2017

Winfried Manns
Geschäftsführendes Vorstandsmitglied des Gemeinde- und Städtebundes RP